Seelenorte Riga II

Eigentlich hätte das Avocado-Mangotartar auf Passionsfruchtspiegel im Restaurant KOLONADE meine volle Wertschätzung verdient. Aber heute ist eben kein normaler Tag. 

Die Stadt strahlt in einer ganz besonderen Stimmung. Blue Sky, Sonne und trotz Montag, Leute mit Flaggen unterwegs Richtung Freiheitsdenkmal. Nationalfeiertag? Irgendwie schon und doch nicht. In der Pfingstsonntagnacht hat sich das lettische Parlament zu einer ausserordentlichen Sitzung getroffen. Thema: Bronzemedaille an der Hockey-Heim-WM. Die Nation zerbirst fast vor Stolz. Das kleine Ländlein mit 1.7 Mio Einwohnern hat die NHL Giganten aus den USA bezwungen. Und so beschliesst die Nationalversammlung  um 23.54 Uhr spontan, den anstehenden morgigen Montag zum arbeitsfreien Tag zu erklären. Und Francesca ausgerechnet mitten im Geschehen. 

Um 11 Uhr will ich gerade die Brücke beim Freiheitsdenkmal überqueren. Es herrscht emsiges Treiben. Abschrankungen, Sicherheitsleute mit rasierten Glatzen und dunklen Anzügen. Techniker, Monitore werden aufgestellt. Alles wird durchdrungen von der scheppernden Stimme eines unsichtbaren Moderators, eine Rockband im schwarzen Leder-Nieten-Wichs packt ihr Equipment aus. Soundcheck.!!! Noch kann ich nicht ahnen, was in 2 Stunden hier geschehen wird. Eine Gruppe junger Männer ausgestattet mit Bierdosen und rot-weissen Shirts kreuzt meinen Weg: Was geht ab?“ frage ich sie. „Um 13. Uhr kommt die Mannschaft! Yeahhhhh. 


LA-TI-VA!  LA-TI VA! LA-TI-VA!

Perfekt… unwissend hatte ich im „Kolonade“ reserviert, in der Absicht, nach meinem Stadtmarsch durch die zauberhaften Parks

einen beschaulichen Lunch mit Blick ins Grüne zu geniessen. Und nun kann ich ja von dort aus immer mal nach draussen gehen

und um die Ecke einen Blick auf den Platz … und später auf die Bronze-Boys werfen. 

Dachte ich!!! 

Der Geschäftsführer Eigar lässt gedankenverloren eine Magnum Châteaux Gassier auf meinem Tisch stehen

und zusammen starren wir ungläubig auf die Parkwiese. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, murmelt er. Nicht abbrechende (Ameisen) Ströme von Menschen ziehen Richtung Monument. 

Fahnen schwingend… Rot …Weiss… Kind und Kegel,

Blumenkränze, 30… 40… 60 Tausend? 

Niemand weiss es. Alles wird voll. Kurz vor ein Uhr steigert sich die Dynamik nochmals. Die schattige Terrasse des Restaurants, von wo man gar nichts sieht, wird von den Fans geentert. Dann branden Schreie auf… der Applaus rauscht… die Stimme des  Moderators überschlägt sich. Im pfingstlichen Momentum verstehe ich Lettisch. Die Eis-Helden sind da!! Ausgelassene, aber friedliche Begeisterung. 

You tube Links unten.



https://www.instagram.com/reel/Cs1w3kALkeP/?igshid=MzRlODBiNWFlZA==

Plötzlich Ruhe. Ehrhabene Feierlichkeit durchwirkt die Szenerie. Die Nationalhymne. Und mit dem letzten Ton brechen die Dämme der eher zurückhaltenden Menschen.



LA-TI-V!  LA-TI VA!   LA-TI VA!!!!“


LA-TI-V!  LA-TI VA!   LA-TI VA!!!!“


LA-TI-V!  LA-TI VA!   LA-TI VA!!!!“


Ich verstehe; es ist mehr als ein Hockey Sieg. Die Vergangenheit des Landes, die erkämpfte Freiheit. Eine Stadt, die trotzig an jedem offiziellen Gebäude die ukrainische Flagge hisst. Kleine können auch GROSS. Resilienz demonstrieren.

Ich verlasse das „Kolonade“ schliesslich emotional berührt und mit einer Trouvaille. Nein, nicht mit einer Bronzemedaille aber mit etwas, das sehr mit Widerstandsfähigkeit zu tun hat. 

Lettland ist im Guinessbuch der Rekorde mit dem nördlichst gelegenen Weinberg der Welt eingetragen. 57. Breitengrad. Wer hätte das gedacht. Lettand verfügt über diverse Weingüter. Neben Weinen aus Beeren und Kirschen 

produziert man mit viel Liebe und Aufwand Rebensaft aus Solaris Trauben. Den Wein aus dem Staatsgut Sabile kann man eigentlich nicht über den Tisch kaufen. Aber der Enthusiasmus der Stunde machte es möglich. Die Flasche wird unverkostet ein Ehrenplätzchen erhalten.

An diesem Highflyer-Tag soll es natürlich noch angemessen hochkarätig weitergehen. Von überall sieht man den eigentlich grusigen Kasten des Radisson Hotels, aber die SKYLOUNGE Bar biete DIE ultimativee Sicht. Für ein vorgängig mit Kreditkarte hinterlegtes Konsumationsdepot (Reservation per Mail) von 50 Euro pro Person, darf ich punkto Platzierung etwas erwarten. Und tatsächlich: Ich erhalte den ultimativen Tisch genau über der orthodoxen Kathedrale. 

The View ist atemberaubend. 

Die rotmähnige Gastgeberin mit dem prosperierenden Vornamen VIVA kümmert sich charmant um alle Gäste. 

Die Speisekarte ist asiatisch. Genau richtig. Die Thunfischwürfel mit Wasabi und Soyasauce an Sesampanade geniessen noch ihren letzten Höhenflug. Köstlich!

Derweil taucht die untergehende Sonne die Dächer in Amber. Honiggolden. Die Dämmerung kündet die kurze Nacht. Mit der Zeit vermischen sich die Bilder von innen und aussen. 

Inzwischen hat einiges Partyvolk die Tanzfläche erobert. Der Saxophongroove, der den Sonnenuntergang begleitet hatte, weicht nun zusehends dem hämmernden Techno. 

Reflexionen. Doppelbilder.

Tag und Nachtträume.


Changierende Welten.

Mein Herz ist voll als ich endlich mit dem Lift hinunterfahre. Ruhig und gelassen empfängt mich die Stadt. 

Auf dem fast leeren Rathausplatz spielt Alexandra Stricelli. Sie und ihr Cello. 

Das virtuose Moll füllt raumgreifend den Platz, klettert entlang der Zinnen hoch. Es gibt keine Zeit. Ein hochmystischer Moment. Meine Worte braucht es hier nicht mehr.

Video: 

Link zu Alexandra Stricelli.


https://youtu.be/29d8z7SzM0I





Ihre Musik offenbart die lettische Seele.

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Kommentare: 5
  • #1

    Albert Müller v/o Final (Sonntag, 04 Juni 2023 16:28)

    Wie bringst Du es fertig, so "gestochen scharfe" Bilder zu kreieren? - Gratuliere und ich habe die "Seelenorte" - samt KIRSU VELVETS und ABAVAS SOLARIS - in mir aufgenommen...

  • #2

    Tena de la casa (Dienstag, 06 Juni 2023 09:52)

    Senza parole…

  • #3

    Rena de la casa (Dienstag, 06 Juni 2023 09:54)

    … vor lauter Staunen schreib ich meinen namen falsch!
    Grazie für das einmalige Erlebnis, Francesca!

  • #4

    Oswald (Montag, 26 Juni 2023 13:44)

    Liebe Francesca
    Dieser Bericht und die tollen Bilder runden deine frühere Schilderung sehr gut ab. Bravo auch für den perfekten Text.
    Da wollen wir wohl auch mal hin…

  • #5

    Susanne (Montag, 26 Juni 2023 16:46)

    Einmal mehr phantastisch, liebe Francesca. Deine Riga Berichte brachten mich zum Schwelgen, Schmunzeln und Staunen. Grandios wie du mich an deinen Reisen teilnehmen lässt. Merci vielmal�