Ulmer Momente

„Darf ich „Elisabeth“ zu Dir sagen?“ Ich spüre einen leichten Händedruck. Bejahend, die Geste. Zart. Imaginär. Denn meine Grossmutter Elisabeth Schätzthauer ist nicht hier. Oder doch? Wir sind uns nie wirklich nah begegnet. So ist es, wenn die Erinnerung nicht bis ins 2. Lebensjahr zuückreicht. Sie war alt und ich eine Spätberufene bezüglich meines Auftritts auf dieser Welt.

Ich erfuhr nur wenig über sie. Und dazu gehörte, dass sie aus Ulm stammte. Kein Wunder... irgend einmal... ich meine, ein Viertel meiner Gene haben schließlich einen Bezug zu dieser Stadt. Ulm war on my List.... seit jeher. Es blieb beim Lippenbekenntnis. Ulm war irgendwie abseits. Bis vorgestern. Top Wetter-Prognose und in mir das Gefühl: „Ich bin dann mal kurz weg.“  Spontan gebucht. Spontan gefahren. Eingetroffen.


Der Blick auf die Mega-Dauerbaustelle vor dem Bahnhof, lässt leichte Zweifel aufkommen. Der Taxifahrer flucht.

Aber schließlich im Fischereiviertel angekommen: Einfach  nur noch charmant. Ein Quasi-Colmar erwartet mich. 


Was für eine Überraschung.

Und was für ein Hotelzimmer im schmalen Haus. BINGO.siehe (Inspiratio Ulm). Coming up soon.

„Komm Elisabeth, komm. Wir  entdecken Deine Stadt.“ Es geht durch die verwinkelten Gassen. Die „Blau“

leistet sich den Luxus, kurz vor ihrem Eintritt  in die  Donau, in zwei Armen durch das ehemalige Handwerkerquartier zu fliessen. 


Alles ist ein bisschen schief. Überall Stege, kleine Brücken, auf denen nun Corona-Gastronomie erlaubt ist.

„Wo sollen wir uns denn niederlassen... Elisabeth?“ 

„Nur nicht im Zunfthaus der Schiffsleute „Ulmer Austern“  bestellen“, gigelet Elisabeth. „Da kommen Deckelschnecken. Das ist schon seit 200 Jahren so, da haben wir die Tierchen noch in zu Tausenden in Fässern an die Höfe exportiert.“ 

Also probieren wir die Münz, idyllisch an den Kanälen mit Blick auf das schiefste Hotel der Welt und die kleine Steinbrücke. 

Ausgebucht. Nicht verzagen. Elisabeth flüstert: „Das Gerberhaus,.... du weisst schon.“ „Ja, nun denn, Dir zuliebe Elisabeth: Semmelknödel. Man hat mir kolportiert... nichts ging damals über Deine Knödel.“ 


Das einmalige Ambiente entschädigt mich für den Verzicht auf die geliebten Kässpätzle. Die Dämmerung legt sich in die Gassen.

Lichter poppen auf, spiegeln sich in den fliessenden Wassern. Stetiges Rauschen begleitet das Klingen der  Gläser, das Gelächter der Gäste.


Die Wände der Gebäude tauchen in Honigschein. 

Fehlt nur noch der Nachtwächter. Er hat eine halbe Stunde Verspätung. Auf ihn habe ich gewartet und spekuliert. „Die Tour ist ausverkauft“, flötete am Nachmittag die Dame bei Ulm-Tourismus. Hier gilt das gleiche wie für Hotelconçierges. Nickend verständnisvoll lächeln, aber nicht alles glauben. Und tatsächlich, der junge fesche Gardien kann sich meiner interessenstriefenden  Anfrage vor Ort nicht entziehen. Elisabeth ist natürlich auch dabei. Unsichtbar. Mit der Laterne geht es mit der Gruppe durch die dunklen Steige. 

Hinter jeder Fassade eröffnen sich  Geschichten. 

Dramatische, witzige, mörderische und humorvolle. 

Der Herr der Mauern und Tore kommt in Fahrt. Und ich staune nicht schlecht. Ulm ist eine Stadt in zwei Bundesländern. Ulm: Baden Württemberg. Neu-Ulm: Bayern. Damit erklärt sich der Titel: Zweilandstadt. 


Das brachte in der Historie ziemlich viele Schwierigkeiten mit sich: Die Masseinheiten waren z.B. verschieden. Die Ulmer lebten auf grösserem Fusse und die Zeit differierte um 7 Minuten, was darin endete, dass die Bahn in Ulm später abfuhr als sie auf der andern Seite des Flusses eintraf. Tempi passati. Inzwischen hat sich das gelegt. 

Das Kerzlein des Nachwächters erlischt nach 90 Minuten. Noch ein kleiner Zungennetzer auf dem Lieblingsbrücklein.

Ich steige hoch in meinen Adlerhorst. Das schmale Haus. 

Am Morgen geht es mit Elisabeth auf den Hügel bergan. „Unglaublich, unglaublich, ich erkenne meine Stadt nicht wieder. Vieles war ja zerbomt,. Und im Gerber-und Fischerquartier war es eh ärmlich und schmutzig“,  murmelt Elisabeth beinahe verstört, wirr.... aber dann ganz klar: „Ich hatte damals, Pech und Glück. Mein Mann fiel im Krieg und ein Schweizer rettete mich, indem er mich heiratete. So kam ich nach St. Gallen.


Uns zieht es Richtung Münster. Und uns stehen beiden die Münder offen. Elisabeth bewundert die futuristische Architektur und ich die Tatsache, dass diese munter mitten in der Altstadt verteilt ist. 


Neben dem ehrwürdigen Keplerhaus reckt frech 

eine Vollglaspyramide. 

Die Stadtbücherei mit Spiraltreppe. 

Und  das zugoramaähnliche Rathaus darf gleich neben dem weltberühmten Münster glänzen. 

Im 3. Stock bieten sich Fusionsblicke zwischen Gotik und Modern.

Bleibt noch das Münster. Höchster Kirchturm der Welt. 

Vor dem Eintritt in eine unbekannte Kirche überkommt mich meist leichte Aufregung. Aus Äussere muss gar nicht Indiz für das Interieur sein. Wie oft bleibt trotz gefälliger Aussenansicht nur ein ernüchtertes „Aha“ ... und dann wieder überraschen einfache Gebäude mit dem  Wouwww. Das reicht hier nicht. 


Extra et intra: Ehrfurcht.

Gloria in excelsis Deo... hoch... hoch... 

Hosianna in Säulenoptik.

Leicht, leicht....  fliegend.... 

motivierend...lebendig. 

Die Kreuzrippen verästelten Lebensnerven gleich. Eine Durchaderung, aber nicht pulisierend, sondern stoisch ruhig. Sicherheit ausstrahlend. 

Blaues Kühl klettert in die Spitzen. Ich muss schauen... schauen... staunen.

Im rechten Kreuzgang beginnt es plötzlich zu leuchten. Ich erinnere mich an die Geschichte....deine Geschichte, Elisabeth. Mehrmals wöchentlich besuchtest Du die  St. Galler Klosterkirche. Dein Gebet: „Es möge Deiner fast blinden Schwester das Augenlicht zurückgegeben werden.“ 


Es gab keine Heilungsaussicht. Eines Tages warst Du allein in der Kirche. Da stand plötzlich eine Säule in Feuer. Vom grellen Schein geblendet, stürmtest Du voller Furcht aus der Kirche.

An diesem Abend rief Schwester Anna an. Von einer Sekunde auf die andere. Sie sah ... sie sah scharf. Die Zeit stimmte mit der kirchlichen Szenerie überein. Die Ärzte hatten keine Erklärung. Andere sprachen von einem Wunder. 


Jetzt werde ich gewahr, dass Deine Hand, Elisabeth, von meiner Schulter verschwunden ist. Da lag sie doch als wir zusammen in die Höhe blickten. 

Warm. Verbunden.


Nur meine Projektion? 

Oder war da, in Momento das Unerklärliche präsent. Du hier?

„Elisabeth, hast Du das Spitzbogenfeuer entzündet?“

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Kommentare: 8
  • #1

    Werner (Samstag, 11 September 2021 10:46)

    Grossartig beschrieben! Ich war zweimal da, geschäftlich, aber zu wenig Zeit. Danke für die Erleuchtung!!

  • #2

    Albert Müüller (Samstag, 11 September 2021 11:11)

    Unter all den imposanten Aufnahmen gefällt mir jene vom Fischereiviertel am allerbesten - herzlichen Dank -

  • #3

    Caroline (Samstag, 11 September 2021 12:42)

    Wunderbar Franziska! Ich bin regelmässig in Ulm bei meiner Freundin, die dort Künstlerin ist (und ursprünglich aus der Schweiz stammt). Ich entdecke jedes Mal ein Stück Ulm dazu und tauche in diese Stadt ein…entdecke neue Ein- und Ausblicke, lerne neue nette Ulmer kennen. Das letzte Mal dort war ich vor ein paar Wochen und habe meine Tochter mitgenommen. Mit ihr wollte ich meine Ulmer Momente teilen und so haben wir dann die Stadt und ihre Hügel mit dem Fahrrad entdeckt und zusammen erobert, was grossartig war:). Ulm ist definitiv eine Entdeckung wert - schön, hat dir deine Grossmutter Elisabeth ihre Heimatstadt gezeigt! Mit liebem Gruss nach Zug, Caroline

  • #4

    Rena de la casa (Samstag, 11 September 2021 18:59)

    Ulm als Inspirationsquelle für dich, in Gedanken mit Elisabeth ihre Stadt zu erkunden. Fotos und Schilderung ‚gluschtet‘, Ulm zu entdecken: ich dank dir dafür, Francesca!

  • #5

    Petra Becker (Samstag, 11 September 2021 21:43)

    Sehr interessant liebe Franziska.
    Vielen Dank und herzliche Grüsse

  • #6

    Annalies (Sonntag, 12 September 2021 11:55)

    Deine Berichte sind so faszinierend. Vielen,vielen Dank und weiterhin viele schöne Entdeckungen. Liebe Grüsse

  • #7

    Elisabeth Huber (Sonntag, 12 September 2021 14:17)

    Am Anfang unserer interessanten Stadtführer-Weiterbildung im April 2019 mit Donat und Christian nach Nördlingen, Lorch, Esslingen etc. statteten wir dieser faszinierenden Stadt einen (Blitz-)Besuch ab. Beim Betrachten Deiner imposanten Bilder und Lesen des spannenden Stoffes schweifen meine Gedanken zurück in diese prächtige Stadt. Wie immer begeistern mich Deine lebhaften Schilderungen und entführen mich in eine andere (Traum-)Welt. Herzlichen Dank dafür!
    Elisabeth

  • #8

    Maria Knist (Sonntag, 12 September 2021 16:40)

    Danke Franziska für die schönen Bilder und wie immer, super Texte dazu.
    Erinnerungen wurden wach. Oktober 2012 sind wir von Baar mit den Velos nach Siegen meine Geburtsstadt geradelt. Ulm war eine unserer vielen Stationen. Fantastische Altstadt, schöner Münster, wie du es beschrieben hast. Die Aussicht, Rundblick vom Turm hast du hoffentlich auch genossen?
    Was kommt als nächstes? (Auch die Deutschen haben ihren Bundesländergeist, )
    Maria