Noblesse Oblige

Über den regennassen schiefergrauen Türmen von Schloss Schadau erbricht sich eine Wolke. Der peitschende Wind  rollt wellend-knisternden Donner zwischen die ehrwürdigen Blutbuchen am Gestade. 

Mein Blick tastet Richtung Thunersee, dessen schaumkroniges Wasser an der Quaimauer leckt. Die Aare reisst sein Wasser aus der Seenplatte. Von Eiger, Mönch und jungfräulicher Dame nichts zu sehen. Graue Wand. Dauerregen. 

War es eine solch dramatische Tristesse, die in „Louis de Rougemont“, aufgewachsen auf diesem herrlichen Anwesen, seinen Entschluss reifen liess? 

War er, der in die edelste aristokratische Schicht hineingeboren war, gefangen in kreisenden Gedanken. Kreisend... kreisend...drehend... immer drehend wie das Treppenhaus seines noblen Heimes?

SCHLOSS  SCHADAU.

Als einziger Sohn hatte Louis in die grossen Fussstapfen seines früh verstorbenen Vaters zu treten. Das Vermächtis des neuenburgisch-preussischen Adels war sein Schicksal.

Neuenburg stand zwischen 1717 und 1857 unter preussischer Herrschaft (freiwillig von den Neuenburgern so gewünscht) und der Hof des deutschen Königs Wilhelm I war somit das Mass aller Dinge der neuenburgischen Elite. Die Banquiersfamilie „de Rougemont“ und die Familie Pourtalès-von Harrach (verwandschaftlich verbandelt) gehörten dazu. 

Sie entdeckten die Region Thunersee um 1840 herum als Ort der edlen Sommerfrische und liessen dem damals aufkommenden architektonischen Trend entsprechend, neugotisch inspirierte Schösser erbauen (Schadau) oder sie in dieser Stilrichtung um- und auszubauen (Oberhofen). Was damals entstand, wird heute als die bedeutendsten Gebäude der Schweizerischen Epoche des Historismus geratet. 

Nun, Louis wuchs in dieser Blase der vermeintlichen Sorglosigkeit und elitären Erziehung auf. Die Herrschaften der beiden Schlösser lebten die „Noblesse Oblige“ „Adel verpflichtet“ aus vollem Zügen. Sie taten viel Wohlgütiges für die einfache Bevölkerung und waren deshalb äusserst beliebt und gleichzeitig führten sie ein abgehobenes Dasein in einer Zweiklassengesellschaft (profitierend von Unsäglichkeiten dieser Zeit wie dem Sklavenhandel), umschwirrt von Dienern und Mägden. 

Ich beschliesse, das Schloss Oberhofen zu erkunden. War Louis  hier damals mit der „Blüemlisalp“ zu rauschenden Bällen angelandet? 

Wurde er hier im berühmten orientalischen Rauchzimmer, das ich nach gefühlten 100 Stufen erklimme, in die Gesellschaft eingeführt?

Erspürte er hier das Diametrale der Welten?

Mein Streifzug durch das verwinkelte Schloss  begleitet  mich auf unterhaltsame, nicht moralisierende Weise durch den gräflichen Alltag. In das Zusammen von Bediensteten und Herrschaften. 

Eine Stimme ertönt: „Mach doch endlich die Türe auf!“

So tue ich, wie geheissen. Ich befinde mich gerade in der Küche. Eine schwitzende, gut beleibte, Magd erscheint in Lebensgrösse und schnauft mich per Videoinstallation an. Was das für ein Chrampf sei. Kohle schleppen, treppauf treppab. Wochenlang üppige Dinners vorbereiten in schmachtender Hitze. Stets zu Diensten. 24 Stunden gehetzt, 

während sich die Haute Volée bei dezenter Kammermusik im Salon unterhalte oder sich im Schlosspark verlustiere. 

Gut möglich, dass Louis (22) hier auf Schloss Oberhofen Bekanntschaft mit seiner Zukünftigen gemacht hat. Machen musste, denn geheiratet wurde seit Generationen nur im Adelsstand. Seine Mutter hatte die Braut, eine Genferin von edlem Blute, ausgesucht. Sie wollte sicher nur das BESTE, wie so oft in der Liebe, wenn andere das vermeintlich „Beste“ in amourösen Angelegenheiten definieren möchten. 

Dabei war es doch die Baronin de Rougemont selbst gewesen, die sieben Jahre vorher ein bürgerliches Waisenmädchen auf Schloss Schadau aufgenommen hatte. 

Ein Gspändli für Louis. Wie oft hatten die beiden unbeschwert im alten Turm am See gespielt und als verbotenes Interesse wuchs... hatten sie sich vielleicht heimlich in den lauschigen Gärten des nahe gelegenen Thuner Schlosses getroffen? 

Unter trutzigen Mauern zarte Küsse getauscht?

Schlechtes Timing armer Louis! Heute könntest Du mit Deinem Herzblatt in einem der zahllosen Restauräntli direkt am Aareufer unter Lämpligirlanden einen romantischen Abend verbringen. 

Doch dazu musste noch viel, viel viel Wasser den Fluss hinab. Ich betrachte, wie das Aare-Türkis die Zweigspitzen der Weiden umspült. 

Wie das Wasser sich an die Alte Schleuse wurgelt. Weiss. Schaumig. 

Wie es auf der andern Seite geglättet aber rasant in der Zukunft entschwindet. 

Louis durfte seine Futur nicht mitgestalten. Sein „Mädchen“ wurde an einen Zimmermann vergeben. Aus dieser  Verbindung ging schon bald ein Sohn hervor. Die junge Mutter setzte sich gegen ihren Mann durch. Der Knabe erhielt den Namen „Louis“. Oder gibt es da ein Secret?

Hat das den jungen Adligen schliesslich zerrissen? Diese Sehnsucht nach dem Unmöglichen?

Louis: „Bist Du gesprungen?

In das tödliche Schieben des Flusses?

Oder: Vom Sandsteinrondell deiner Treppe?“


2022 könnte ich es vielleicht an den „Schadauspielen“ erfahren.

Mit Louis frühem Freitod endete der Zweig der de Rougemonts und 1926 übernahm die Stadt Thun das Anwesen. 

Seit 2019 ist es als historisches Hotel mit 9 Originalzimmern ein Ort herrlichster Récréation.

Louis würde es sicher geniessen. Vom Park her höre ich das fröhliche Gelächter einer der unzähligen Hochzeitsgesellschaften. Die fein gewandeten Gäste werden im „Salon de Rougemont“ umfangen von ornamentalen Ledertapeten dinieren, Fotos vor dem Schloss machen. 

Und der glückliche Bräutigam. Wird er seine Amour die Treppe hinauftragen?

Seine frei gewählte Liebe entführen?!

Burgfräulein auf Zeit, Francesca der Ersten, hat es trotz suizidaler Dramatik und hohen Wassern hier am Thunersee gefallen.

Und auch das alpine Dreigestirn 

samt Blüelisalp entblättert sich nach zwei Tagen hoheitlich im frühen Morgenrot. 


Schloss Schadau und all seine aktuellen und versiegten Histoirs d‘amour schlafen noch.

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Kommentare: 9
  • #1

    Georges (Montag, 12 Juli 2021 19:10)

    Als 'Thunkenner' und 'Louis Fan' gefällt mir die Geschichte doch bestens.
    Au jeden Fall ein Ausflug wert.

  • #2

    Werner Weber (Dienstag, 13 Juli 2021 15:10)

    Ja, Thun mit dem See, der Aare, den Schlössern hat es meiner Frau Pia und mir sehr angetan. Leider mussten wir nach drei Nächten unser schönes Hotel verlassen. Die Tour de France machte einen Abstecher in Thun und hatte halt Priorität.
    Ob es allen Militärangehörigen die ihren Dienst in Thun absolviert haben, auch so gut gefallen hat? Nichtstun "im Militär" war damals schöner als Thun.

  • #3

    Michel (Dienstag, 13 Juli 2021 15:26)

    Belle histoire �
    Merci Francesca
    FG de France
    Michel

  • #4

    Cornelia (Mittwoch, 14 Juli 2021 11:21)

    Moin, moin … Danke für Deine anschaulichen Führungen durch mir unbekannte Gestade.

  • #5

    Petra Becker (Mittwoch, 14 Juli 2021 11:50)

    Liebe Franziska,
    vielen Dank für die sehr interessanten Einblicke und Inspirationen!

  • #6

    Dorte (Mittwoch, 14 Juli 2021 16:39)

    Thun und seine Schlösser stehen schon lange auf meiner Liste. Jetzt bin ich noch mehr inspiriert. Danke für noch eine gute Geschichte.

  • #7

    Albert Müller (Mittwoch, 14 Juli 2021 20:50)

    Warum auch in die Ferne schweifen, sieh das Schöne samt jenem Burgfräulein liegt so nah...

  • #8

    Annalies (Donnerstag, 15 Juli 2021 14:47)

    Wahrlich ein Märchen mit unglücklichem Ende. Immerhin durfte eine neue Prinzessin einige Tage geniessen. Deine Berichte sind immer so interessant und schön.
    Weiterhin spannende und schöne Zeit.

  • #9

    Rena de la casa (Dienstag, 20 Juli 2021 17:43)

    Merci bien, ma chère.
    Ja, warum schweifen wir gern in die Ferne? Ein modernes Burgfräulein erzählt uns Geschichten von nah (und fern).