Tempora obscura

Sie zieht meinen Blick an. Diese Eisplatte im Davosersee. Leichter Wind ist aufgekommen. Die ziselierten Wellen kleiden sich in Stahl. Heute am Tag des Jahreswechsels kämpft diese kleine  Insel um ihre Zukunft. Immer schneller im Takt, schickt die auffrischende Böe ihre Wasserrippen über das nun glasige Eis. Wie Kiemen eines Wales zeichnen sich die Wasserverwehungen, fressen mit jedem Schwappen ein paar Zentimeter des Gefrorenen. 


Ein ästhetisches Vergehen.

Wird der nahende Abend mit seinen fallenden Temperaturen dieses gefähliche Spiel des züngelden Wassers nochmals aufhalten. Dem Eis noch eine Nacht, ein kurzes Futur schenken?

Was wissen wir schon über das „Morgen“ in diesen rätselhaft, obscuren Zeiten. Die Silvesternacht naht und Bern meint, sie müsste anders sein. „Bleiben Sie zuhause!“ Aber natürlich nicht zusammen, sondern allein. Und falls doch nicht, dann keinesfalls daheim, sondern draussen und dies nicht im Wald, denn das könnte die Hirsche schrecken. Diese, die sonst immer geängstigt werden durch die pyromanen Knaller, aber diese seien möglichst zu unterlassen, aber nicht wegen den Geweihträgern, sondern damit wir Menschenkinder uns nicht aerosol-kontaminiert unter dem Glitzerregen in die Arme fallen.


Was also tun in diesen regungslosen Stunden bevor der Zeiger das 2020 endlich entrücken möge. Wenn die Kirchglocken das Ende künden. Die Zeit stillzustehen scheint. Als gebe es kein Dahinter und kein Davor, nur das Jetzt. 

Silvia und Thomas haben die Lösung parat. Ihr Rappenfell dampft in der Kälte. Wenn sie ihre mächtigen Hälse schütteln, klirrt das Zaumzeug.

„Steig ein, steig ein... unter die warme Schaffelldecke“, schnauben sie ungeduldig. „Wir traben in das Jahr.“ Bald bin ich verpackt. Die Bremse wird gelöst. Das Duo zieht an. 

Kling

Kling

Kling

Die Glöcklein singen im Schritt der Hufe.

Das Dorf ist leer. Keine Musik trällert aus den Bars, keine angeheiterten Heimkehrer johlen in den Strassen. Bald lassen wir Klosters hinter uns. 

An den verschneiten Ufern der jungen Landquart entlang.

Kling

Kling

Kling

Vorwärts, 

als gäbe es kein Davor und kein Dahinter. 

Nur das Jetzt.


Spitze Schneekristalle reflektieren im Licht der Strassenlaternen. Die Kufen des Schlittens schleifen über den Weg.


Und da steigt er hoch. 

Mr. MOON, der gestern noch im vollsten Rund erstrahlte. 

Er zieht die Decke der Nacht von den Hängen. Magisch blau malt er die Tektonik. Wie zauberhaft. 

Aber so ganz mag sich Luna doch nicht zeigen. Wie das Eis von heute Morgen lässt er die tempora obscura aufschimmern. Das Ungewisse. Wolkenfetzen möchten ihn bedrängen. Sie nagen unablässig an seiner Scheibe.

Sie wollen seinen Glanz verschlucken. Aber er gibt nicht auf... kämpft sich mit Halloringen, die farbig ihn umarmen, wieder in den Vordergrund. 

„Weiter Thomas“... „weiter Silvia“... „weiter!“:

Kling

Kling

Kling

immer vorwärts ... 

als gäbe es kein Dahinter und kein Davor. Nur das Jetzt.

Von Ferne erwärmen mich die erleuchteten Fenster der urigen Chalets. Die verzierten Giebel. Meine Kamera möchte sie einfangen. Aber auch die Linse will keine Klarheit zelebrieren. Der Nachtmodus ziert sich... 

verwischt Konturen....

lässt Lichter in Linien zerfliessen. 

Als wolle gesagt sein... Da ist Licht... undefiniert....aber da ist Licht.

Noch sehen wir nicht das Ende....

aber je näher wir zusammen auf die Lichter zugehen, desto definierter wird unsere Sicht werden. 

Thomas und Silvia zieht es nun in Richtung warmen Stall. Die Glocken der Kirche klingen auf.... durchschallen das ganze Tal...ihr Klang schlägt an die Bergflanken, die ihn tausendfach zurückschicken,  als wollten sie jetzt wegläuten, was wir uns ins „Dahinter“ wünschen möchten.


Dann fällt der ersehnte Gong. 

Bis zum 12. Schlag. 

Und ich spüre: 

Da ist LICHT!

Nicht mehr verschwommen.

Nicht mehr verzerrt!


KLARES LICHT!

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Kommentare: 11
  • #1

    Georges (Freitag, 01 Januar 2021 22:03)

    Irgendwie erinnert mich deine Lyrik an Annette von Droste-Hülshoff. - Der Knabe im Moor -
    Und das sind anngehme Erinnerungen, spannend, etwas unheimlich, und doch heimelig.

  • #2

    Werner Weber (Samstag, 02 Januar 2021 07:47)

    Ja, das sind eindrückliche und in der wohl schwierigen Zeit, frohe Momente.

    Vor 55 Jahren bin ich in Davos Frauenkirch auch in der Sylvesternacht mit meinem Peugeot 204 in einen Pferdeschlitten gerutscht.
    Es gab Blechschaden. Der Kutscher, die Gäste, die Pferde und der Schlitten kamen unbeschadet davon. Ich mit einem blauen Auge.

  • #3

    margrit.futer (Samstag, 02 Januar 2021 09:20)

    wunderbare zeilen! das licht wird heller - hoffentlich für das jahr 2021.
    alles gute wünscht dir margrit furter.

  • #4

    rh (Samstag, 02 Januar 2021 09:36)

    super beschrieben, wie immer. macht echt spass jeweils deine beiträge zu verfolgen. man fühlt sich mitten drin im geschehen! ich wünsche euch nur dad beste im 2021!
    glg roli

  • #5

    Albert Müller (Samstag, 02 Januar 2021 11:30)

    Wie immer - herrliche Bilder: Seit 50 Jahren sind wir von Clavadel zum Davoser See "gepilgert", aber so eindrucksvoll haben wir die Wasseroberfläche des Davoser Sees noch nie wahrgenommen. - Alles Gute im Neuen Jahr und weiter so!

  • #6

    Stephan Ulrich (Samstag, 02 Januar 2021 12:22)

    Malerischer, friedvoller, beschaulicher geht nicht. Hoffen wir, dass mindestens ein Teil davon aufs 2021 abfärbt.
    (Ein grosses Kompliment der Verfasserin.)

  • #7

    Dorrit und Markus Winterholer (Samstag, 02 Januar 2021 15:56)

    Du schreibst wunderbar. Vielen Dank für die Mut machenden Gedanken für das Neue Jahr! Wir wünschen Dir und Deiner Familie ein gutes, gesundes und glückliches Neues Jahr und freuen uns auf weitere Zeilen...
    Herzliche Grüsse aus dem tierverschneiten Saas-Fee

  • #8

    Elsener Martin (Samstag, 02 Januar 2021 18:11)

    Danke für den schönen Text und wunderbaren Bilder. Wünsche Euch Allen auch ein "Gutes, Gesundes und Sonniges Jahr"

  • #9

    Cornelia (Sonntag, 10 Januar 2021 15:03)

    Auch wenn das neue Jahr schon ein paar Tage alt ist, wünsche ich dir und deiner Familie alles Liebe und Gute fürs Neue Jahr.

    Danke für die gedankliche Kutschfahrt ins Neue Jahr!

    Herzliche Güsse
    Cornelia

  • #10

    Oswald Weber (Sonntag, 10 Januar 2021 18:19)

    Nach unserem Schwatz auf dem Spazierweg von Walchwil wollte ich den Bericht nochmals geniessen. Einfach perfekt, Text und Bilder geheimnisvoll, toll. - Da wird das 2021 sicher auch magische Momente bringen...

  • #11

    Barbara Stiemerling (Mittwoch, 13 Januar 2021)

    Liebe Franziska: Ich wünsche dir und deiner Familie alles Gute für 2021. Ich bin über Silvester auf dem Bürgenberg geblieben. Ich danke dir, dass Du die "Daheim"-Gebliebenen mit deiner bildlichen Erzählung und schönen Impressionen mit auf deine Reise nimmst. Die Kutschenfahrt ins neue Jahr war eine tolle Idee.

    Herzensgruss, Barbara