Stille Wasser

Der Würfel fiel. Eine 6. In meiner Jugend spielte ich gerne „Reise durch die Schweiz“. Ein beliebtes Brettspiel, und wenn mich der geworfene Zufall mit dem Töggel weit nach oben nach Pruntrut  trieb, dachte ich stets: Der Jura, das ist doch einfach Jenseits. So weit weg. Ja und es sollte nun doch ein paar Jahrzehnte dauern, bis ich meine juvenile Unwissenheit endlich mit einem Besuch in realiter anreichern konnte. Wann, wenn nicht jetzt, müssen doch noch einige weisse Flecke meiner Schweizer Un-Kenntnis-Karte eingefärbt werden. 

Das Berner Seeland mit dem pittoresken Murten,

Der Creux du Van, Neuenburgs Grand Canyon 

und voila:

Heute Porrentruy. 

So gross hatte ich mir das Schloss nicht vorgestellt. Stolz prangt an der geschwungenen Rundmauer das Wappen der freien Jurassier. Da muss ich rauf. Auf die Zinnen. Der Aufstieg ist nur  „par chance“ zu finden. Eine vermeintliche Haustür. Dahinter: Eine breite knarrende Treppe führt inhouse über mehrere Etagen bis zum Lift, mit dem ich noch die letzten Meter überwinde. „Oh superb“. 

Vor mir öffnet sich eine imposante Anlage, das Gerichtsgebäude, der Wasserturm und der Blick über die Altstadtdächer. Äxgüsi  Pruntrut, ich habe Dich unterschätzt. 

Was mich sonst im Jura erwarten würde. Da habe ich klare Vorstellungen. 

Die Weite, 

die Wälder, 

der Wind

und dazu gesellte sich das Unerwartete:


Stille Wasser.

Ich bin den Wegweisern zum „Etang de Gruyere“ gefolgt. Ein europäisch geschütztes Moorgebiet. Da liegt er, der Dunkle. Welch Genuss, ihn in 45 Minuten auf torfigen Wegen zu umrunden. Die gelbe Iris steht mit den kollegialen Schachtelhalmen stramm, 

das Knabenkraut (eine heimische Orchidee) präsentiert sein seltenes Pinklila am Wegesrand. 

Mama Blesshuhn umpaddelt zwischen den ufernahen Grasbüscheln fürsorglich den Nachwuchs. Ein feines Piespen ist zu vernehmen. 

Und sonst?

RUHE! 

Geheimnisvoll hat der Teich sein tiefes Schwarz gebreitet. Regungslos als lockte er zum Bade. 

Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Mit Goethe, mit Eichendorf könnt ich hier sitzen. Ja sie wussten, wie ein obscures Nass der Seele schmeicheln kann. Spürten die Sehnsucht der Anima abzutauchen in das Bodenlose, wo sie den, in ihr brennenden Fragen, Verwerflichkeiten und Contradictiones, Kühlung verschaffen dürfte. Eine tröstlich humide Umarmung. Mit der wortlosen Botschaft: „C‘est la vie, es braucht nicht für alles eine Antwort; es ist aushaltbar und Teil des Menschseins, sans réponse zu SEIN!“


Meine Augen trinken die Details der Natur.

Claude, ja der Monet, hat seine Staffelei am kleinen Kanal aufgebaut. Er fängt die Momente der schwebenden Wasserlinsen, verewigt mit leicht gehauchtem Strich die Blütensterne der pastelltonigen Seerosen.  

Ich fühle mich ausgeglichen, harmonisch, mit diesen Gedanken; schenke mir einen letzten Atemzug der Gelassenheit. 

Zeit zu gehen. Meine Neugier lockt mich weiter. Nach all dieser Balance steht zumindest namensmässig „Zweifel“

an. Von Sainglégier kurvt es sich in ein paar grossen Serpentinen hinunter in die grenznahe Schlucht. Noch sehe ich ihn nicht.... den Doubs.... (Wortstamm: die Zweifel, to doubt... zweifeln). Seine Fliessrichtungen bringen mich zur Namensdeutung. Ein Fluss, der nicht weiss, wohin er will?

Er bildet während grosser Strecke den Grenzfluss zu Frankreich, Richtung Norden fliessend, um dann abrupt in St. Ursanne einen 180 Grad Bogen zu schlagen, um wieder, diesmal in Frankreichs Landen, entgegengesetzt, also von Norden nach Süden zu fliessen. 

Kurz vor Goumois zweigt ein Weg ab. Er führt zum kleinen Stauwehr bei Le Theusseret. 

Hier lässt sich vorzüglich im

romantischen Restaurant eine Doubsforelle, in Kräutersauce badend, zerlegen und die mundet unzweifelhaft herrlich.  

Ein Blick über den Gartenzaun, flussaufwärts verspricht Geheimnisvolles. Ich breche auf. Hinein in den waldigen Tunnel durch den der Wanderweg führt. 

Bald verklingt das Gegurgel des Wassers, das bei der Taverne noch munter über die Betonkante sprudelte. 


Jegliche Tonalität bricht in sich zusammen. 


Stille in Grün.  

Da liegt er, der Zauberfluss. Keine Regung; als flösse er nicht. Er hat Zeit. 


Er dupliziert die weissen schroffen Kalkfelsen auf seine Tranquillité. 

Das Schilf bietet sich als elegante Uferbegleitung an. 

Die urigen Bäume tragen ein Moosgewand, dessen filzige Schlämpen teils bis zum Wasser reichen. Märchenmoment. 

Da... am andern Ufer. Eine Bewegung. Ein weisses Pferd. Es schreitet durch die Auen ohne Zaum und Sattel. Eine junge Schönheit sitzt auf seinen Rücken. Rotgolden wellt ihr langes Haar. Sie trägt ein nahezu transparentes Kleid in Pastell-Mint. An einem kleinen Felsvorsprung halten sie an. Elegant gleitet die junge Frau vom Schimmel, steigt hinab zum Wassersaum. Bald steht sie halb im Nass. Das hauchzarte Textil zeichnet ihren grazilen Körper. In der Hand hält sie eine Amphore. 

Ein Buchfink trällert seine Tirade aber mir ist, als lauschte ich fröhlich-beschwingten Harfenklängen. Die Töne kullern, das Mädchen lässt grüne Tropfen aus dem Gefäss in den starr-stillen, schwarzen Doubs fallen. Jetzt, da sich die Flüssigkeiten mischen, wechselt die Wasserfarbe in eisiges Silbergrau.

Ein laues Lüftchen weht mir unverkennbar einen besonderen Duft herüber. 

Grüner Anis.

Ich beobachte, wie die grauen Wasserwolken aufquellen. Da schiesst es mir durch den Kopf: „Oh La Fée verte!“

Als hätte Sie es gehört, blickt sie in meine Richtung: Ihre Lippen formen Worte: „Trink, trink!“ Ihre Stimme wird leiser, leiser. 

Wie aus dem Jenseits. Hatte ich nicht im Brettspiel den Jura, als „jenseitig“ belächelt?

Am Abend serviert mir der Kellner den Absinth comme il faut. Ein Löffel über dem Glas. Den Würfelzucker hatte er vorher im Alkohol getaucht. Er zündet ihn an, legt ihn auf den perforierten Cuillère. Die Zuckerkristalle bröseln langsam, fallen in das Milchigweisse. Der Zucker löst sich auf.... wie die Fee... die unverhofft in der kalkigen Felswand verschwand. Eins mit ihr wurde. 

Man sagt, der Doubs sei 

ein Ort der Kraft,

eine Quelle der Inspiration

ein Raum der Mystik und Magie.


Und ganz selten, so munkelt man...

erhasche man einen Blick auf SIE

La Fée verte.

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Kommentare: 7
  • #1

    Daniel Frutig (Montag, 13 Juli 2020)

    So schön liebe Franziska, dass du uns mit auf eure schöne Reise mitnehmt! Super Bilder und die Prosa lädt zum Schmunzeln ein:-) Geniesst es!

  • #2

    Barbara Stiemerling (Dienstag, 14 Juli 2020 02:45)

    Liebe Franziska: Was für wunderschöne Naturbilder aus einer Region in der Schweiz, die auch ich noch nicht kenne. Die Landschaft hat viel beruhigendes. Danke, dass DU uns teilhaben lässt.

  • #3

    Werner Weber (Dienstag, 14 Juli 2020 08:39)

    Liebe Franziska
    In meiner Junggesellenzeit habe ich in Biel gearbeitet. Damals in den 60-iger Jahren des 20 Jahrhunderts, die Zukunftsstadt. Mit der Uhrenindustrie, drei Wochen Uhrmacherferien, war die Region uns Zugern weit voraus. Der Jura, die schönen Orte, der Doubs und die Menschen im Jura, faszinierend. Die eingewanderten Hugenotten haben zu dieser positiven Entwicklung wohl auch viel beigetragen.

  • #4

    Albert Müller (Dienstag, 14 Juli 2020 11:59)

    Wunderbare, herrliche Naturfotos, vor allem vom Creux du Van und "Stille Wasser" und étang de la Gruyere, wo ich vor 65 Jahren ein Kollegi-Wanderlager leitete.
    Lieber Foto-Dankesgruss
    Albert

  • #5

    Rena de la casa (Dienstag, 14 Juli 2020 13:41)

    Du entdeckst Ecken unserer Schweiz, die du bislang links liegen gelassen hast, da sag ich nur - endlich!
    Im Jura erlebst du eine andere, auch geheimnisvolle Welt!
    Passt, oder?

  • #6

    Dorte (Mittwoch, 15 Juli 2020 21:44)

    Ja, ja schöne Erinnerungen an der Grenzübergang Goumois, kleine Wanderung zum Le Theusseret mit feinem Forellenessen und anschliessender Besichtigungen von Saint-Ursanne. Ein eher unbekannter Teil der Schweiz.

  • #7

    Thea Kalt (Sonntag, 02 August 2020 23:23)

    Ein wundervoller Teil der Schweiz hast Du mir mit deinen Fotos in Erinnerung gerufen. Danke!