Sling

Ich schob ihm die legendären Spanischen Nüsschen herüber. 

Es gibt in Singapur nur einen Ort, wo man Abfall legal auf den Boden schmeissen darf: In der „Longbar“ in der White Lady, dem Raffles Hotel. Und zwar nur und ausschliesslich die Nüsslischalen.  

Ein Kultort und „Must-Do“ in der Stadt. Ich hatte mir den Platz mit 20 Minuten Anstehen ergattert.

„Weisst Du wie es läuft mit den Nüsschen hier?“

Er, der sehr grossgewachsene Asiate, Mitte 30,  Kurzhaarschnitt, weisses T-Shirt, schüttelt den Kopf. So kamen wir zwei, die am Bartresen von der Kelllnerin ganz zufällig nebeneinander gesetzt wurden, ins Gespäch. Zuerst geht es um die Wahl des Drinks. Natürlich ein „Singapore Sling“. Schliesslich sei der ja genau hier erfunden worden und zwar als verkaptes alkoholisches Getränk. Den Damen der Zeit war es nämlich verboten gewesen, sich mit geistig-Liquidem zu vergnügen. Dieser Cocktail sah aber wie ein Fruchtpunch aus und so war das Problem gelöst.

Beim Studium der Karte meint Li, mein Barpartner, dass es da aber viele Slings gebe. Tatsächlich. „We go for the original“. Was da wohl drinn sei? In Chinesischer Sprache bedeute „Sling“ nämlich: „Ranghoher Kommander“, weshalb da eventuell ein very strong Drink käme? Die Bedeutung „Sling“ lässt sich auch mit Wiki nicht klar deuten, aber geniessen wir es doch. 

„In Grenzen“,  meint Li, „ich habe Vorschriften.“ 

Meine Neugier ist geweckt. Er ist 1.  Offizier auf einer Boing 787. Mit Stolz bejaht er meine Vermutung, dass er in ein paar Jahren der Käptn auf dem Dreamliner sein wird. Ein kurzer Moment des Strahlens erwandert sein Gesicht, und er gerät ins Schwärmen über diesen Jet. 

Wir tauchen in die Technik ein und das Thema 737max wird unumgänglich. Ich verparliere mich noch relativ kundig durch Strömungsabrisse. Li meint: „Ein phantasisches Flugzeug, aber man wollte zuviel. Die Software ist dermassen komplex, dass sie scheinbar ihre eigenen Schöpfer überrundet hat. Mein Freund hat jetzt übrigens keinen Job mehr. Er muss auf ein anderes Flugzeug umgebildet werden.“

Der Sling steht vor uns. Li lernt „Prost“ und ich „Kampei“. 

Es bleibt nicht bei einem Sling und das köstliche Gemisch entführt uns in unerwartete Tiefen. 

Ich erfahre von Li’s einsamem Beruf, und wie dieser sein Dasein zuhause kompliziert. „Ich habe nur scheinbar Glück, ich kann entfliehen... für einige Stunden, weisst Du. Ja, ich fliege morgen nach London... von da nach Burnos Aires. Aber ich bin allein. Ich trage hohe Verantwortung. Ich geniesse Ansehen... aber ich bin allein. Zuhause wartet das Misstrauen, ob ich treu war und die kleine Tochter, die nicht versteht, dass ich jetzt (endlich zurückgekehrt) nur eines möchte: Ins Bett... schlafen... Ruhe. Die dauernden Zeitverschiebungen fressen an mir. Manchmal schlafe ich nur 4 Stunden, weil mehr nicht geht.“

Der nächste Sling führt uns in die chinesische Beziehungslandschaft.  


„Wir sind alle in unserem aktuellen System gefangen. Peking weist eine Scheidungsrate von  62% auf. Noch viele mehr möchten ausbrechen. Aus Coexistenzen, die viel zu früh und mit elterlichem Druck eingegangen wurden. Aber in China müssen beide Partner arbeiten. Die Grosseltern ziehen das Kind auf. Du schuldest auf beiden Seiten Dankbarkeit, dass sie das tun. Du kannst nicht einfach gehen. Verstehst Du?“

Li’s Augen sind schwarz und so wie er spricht, wie er etwas haltlos an mir vorbeischaut, fühle ich den Schatten seines Innersten. Wie es ihn würgt und gefangen hält, und wie er genau weiss, dass er diesen Käfig noch lange Zeit nicht aufbrechen wird. Aber in seinen solitüden Stunden über den Wolken... da weitet sich sein Herz. Wenn die Endlosigkeit des Firmamentes, die Wölbung der Erdkugel ihm eine kleine Freiheit schenkt.

Und auch heute Abend hat er eine Insel gefunden. Einen Menschen, der ihm zuhört. Ein Zufallsmensch, der seine Sorgen achtsam entgegennimmt. 

„Herr Ober die Rechnung.“

 „Du gehst schon?“ fragt Li.

„Ja“, und ich denke, für mich: „Es wäre nicht gut, wenn wir noch einen bestellen würden. Er muss morgen um 7 Uhr im Cockpit sein.“ 

Eine kurze, flüchtige Umarmung. 

Li bleibt (doch) noch.


Ich trete hinaus, lasse mich auf der Orchardroad treiben. 

Lasse mich umspülen von dieser Woge Menschen. 

Alle anonym. 

Alle auf Zack.

Alle mich nicht beachtend.

Jeder ist in seiner Welt. 

Jeder beschäftigt mit seinen Eingrenzungen, 

Vorgaben,

Zwängen.

Ein grosser Jet brummt heran. Zieht eine Kurve über die Bay. 

Ich blicke hoch... 

führe meine Gedanken mit dem Jet.

„Wenn Li über den Wolken schwebt, 


dann lebt sein Traum von Liberté“,


 murmle ich leise vor mich hin.


„Kampei!“

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Kommentare: 4
  • #1

    Albert Müller (Dienstag, 28 Januar 2020 12:00)

    Herrlich - aber in der Stadt Zug ist "Longbar" leider überall...

  • #2

    Werner Weber (Samstag, 01 Februar 2020 09:10)

    Und da habe ich doch auch immer früher vom Pilot sein geträumt. Die Realität ist halt doch immer anders. Ich werde nächstens einmal mit Paul Moos, Ex Pilot bei Swiss, über seine Erfahrungen reden. Bruder von Maria Christmann und Schulkollege von mir.

  • #3

    Rena de la casa (Samstag, 01 Februar 2020 11:15)

    Nach coffee and tea folgt nahtlos die Bar- time. Menschliche Schicksale, erzählt an der Bar. Sag, wie mundete dir der originale Sling Drink?

  • #4

    Albert Müller (Samstag, 01 Februar 2020 11:46)

    Alles herrlich und ich erlebte "Sling" am Bäckermöhli...