Vergessene Stadt

Wenn sie heulten, erwachte ich regelmässig in der Nacht. Die Wellen trugen ihr stöhnendes Schnaufen über den nachtschwarzen Willametriver. Doch was interessiert Nachtruhe. Die Amtrak-Loks rollen... rollen. 100 Container im Schlepptau. Die Räder kreischen über die Schienen. Das Geknatter wiederhallt an den Betonkonstruktionen der oben durchführenden Autobahnbrücken. Ab und zu passieren auch Passagierzüge. Immer wenn ich sie sehe, ereilt mich ein Vintagegefühl. Im Vergleich zum schweizerischen Rollmaterial, scheint hier die Zeit vor Jahrzehnten stehengeblieben zu sein. Statt elegant-spitzschnäuzige, verglaste Führerstände, die fast schwerelos vorausgleiten, schnauft hier eine halbrostige Diesellock. 

Ihr Orange wird vom Staub beinahe verschluckt, in ein Oker abtempiert. Die USA ist kein Bahnland. Ich glaube, man ist fast begründungsbedürftig, wenn man für den Zug optiert, aber ich habe jedenfalls das Billett in der Tasche. Der Cascade-Express wird mich antiexpress nach Norden bringen. 

Vladimir, der ukrainische Taxifahrer, mostet das Gepäck in seinen Prius. Noch einmal geht es durch das  aufgeräumte Portland. Kunst auf dem rötlich geklinkerten Gehsteig, 

Vorbei an den unzähligen Trinkbrunnen, die allen zur Verfügung stehen. 

Auf dem Fluss üben die Dragonruderer. Ein Volkssport, dem Dick und Dünn mit Leidenschaft frönt. 

Die Teams trainieren jeden Abend für das grosse Rennen. 

Schliesslich führt die Fahrt durch das Bahnhofsquartier mit den vielen obdachlosen Menschen. Vladimir schüttelt den Kopf, regt sich auf. „Jetzt hat die Regierung zwei riesige Gebäude mit Kleinstwohnungen erstellt. Aber nun haben wir noch mehr homeless people. Das hat sich eben herumgesprochen.“ Ich muss den Gegensatz so stehen lassen. Portland und homeless passt nicht zusammen. Aber es ist ist Realität. Vladimir fährt an der der Union-Station vor.

Die erste positive Überraschung. Ein Bahnhof mit Stuckaturen an der Decke, ein Check-in für Koffern (kein Schleppen), und für 1. Klasse eine separate Wartelounge mit Getränken und pfluderweichen Lederfauteuilles. Verpassen kann ich den Zug hier drinn nicht. Man wird bis zum richtigen Abteil geleitet. Die Polsterung zeigt arge Lebensspuren. Shabby eben. Das sonore Horn der Lok ertönt. Ciao Portland. 

Nochmals ein Farewellblick auf die diversen Brücken. Ich bin um viele Erfahrungen reicher. „Sympatisch unaufgeregt“  ist wird meine Erinnerung prägen. Die dreistündige Fahrt nach Norden hält wieder viel Grün bereit. Flüssläufe; kurz vor Tacoma wird es interessant: Ein Meeresarm tastet sich ins Ladesinnere.

Das Wahrzeichen, die Zwillingsbrücken, überspannen ihn.

Am Bahnhof glänzt das Glasmuseum. Hoffnung, in den nächsten Tagen mit spannender Architektur beglückt zu werden, keimt auf.

Nun ist es nur noch ein Katzensprung nach.....

Die Lok hustet, pfeift ein letztes Mal. 

Wouww diese Einfahrt. 

Seattle ich komme.

Die Fahrt zur Unterkunft bietet schon architektonisch Hochstehendes: Die Bibliothek.

Als Nächtigung habe ich mich erstmals für eine Wohnung entschieden. Das Wohlwollen der Unwissenheit ergiesst sich über mich, als ich die Türe öffne. Was für ein Glückstreffer. Eine Dachterrasse mit Ozeanblick und Hängematte und das „zmitzt im Chueche“. Zwei Mal umfallen und ich stehe im Pike Place Market,  d e r Anziehungspunkt für  ganz Northwest plus 3000 Kreuzfahrer täglich

Natürlich sofort ab ins Gewühl. Ich lande bei Kessy, bestelle Chardonay aus Washington State ( ja die können das besser, als die Portländer). Kessy ist entzückt. Eine Schweizerin! Unauffällig stellt er ein zweites Glas Weissen dazu. Ich hebe fragend die Augenbrauen. „?“

„Ich habe Amigne im Sortiment und Petit Arvingne.“ „Was ist das lieb!!!“ Kessy: „Mein Patron reist bald in die Schweiz. Dieses wichtige Fest, weisst Du.“ „Ohhh das Fête de Vignerons“. Da gehe ich auch hin.“

Folklore  nach Art Seattle gibt es nun gleich im Haus Gebäude des Pike Place Markets (Schweinemarkt).

Hunderte von Mini-Geschäften. Deko bis Räucherstäbchen. Mikrobrauereien, Donutsfabrikanten und Blumenstände. Ein Traum. Für 10 Dollar: Duftend Florales. 

In Pink

In Limettengrün

Gelbe Kirschen und Regenbogenkarotten erwarten an den Gemüseständen Aufmerksamkeit. 

Die Must-have-seen-attraktion sind aber die Fischhändler. Krabben und Co gelten hier als der Renner.

Wenn Fisch gekauft wird, werfen die Fischverkäufer theatralisch,  halbmeter lange silbernschillernde Flossenträger durch die Luft. „Uuuuuh“ schreit das Publikom... „nochmals, nochmals!“

Meine Kamera ist zu langsam. Es bleibt beim Versuch, das perfekte Bild zu erhaschen.

Ich möchte raus aus dem Gedränge. 

Der Olympic Park an der Uferpromenade lockt mit Kunst der Superklasse 

und geleitet mich unweigerlich zu „The Needle“.

War Seattle einmal Olympischer Austragungsort? Ken, der Stadtführer, den ich Tags darauf treffe, verneint. „Nur die Berge bekamen den Namen, als die Olympics im 19. Jahrhundert wieder eingeführt wurden. 

Aber die Weltausstellung 1962 brachte uns auf die Weltkarte. Endlich. 

Und wir kamen wirklich futuristsch rüber. Der Monorail, 

die  „Space needle“. Alles war im Aufbruch. Und unserer Lebensgefühl war top.“

Seither haben 50 Mio Menschen den Turm besucht. Die Aussicht ist phantastisch. Doch ....die schrägen Glasscheiben sind gewöhnungsbedürftig. Den Glasboden erspare ich mir. Ich geniesse die Sicht und lerne, wie wasserbezogen die Stadt liegt. 

Vor dem offenen Pazifik gut geschützt in einem Meeresarm. An der Seite flankiert vom Süsswassersee „Lake Washington“.

Ich besuche die Schleusen, welche Süss -und Salzwasser trennen.

Rund um die Seen (es gibt noch weitere) und entlang des Kanals, haben sich schmucke Vorortquartiere gebildet. 

Mein Eindruck.... grün... grün ... grün. 

Da diese Farbe Sommer wie Winter vorherrschend ist, wurde die Stadt, Emerald City, genannt. 

Wieder in der Innenstadt  angekommen, klopft meine einkaufsaffine Seite in mir an. Gibt es hier etwas Cooles. Etwas, was nicht in jeder Weltstadt zufinden ist? Ich erinnere mich an Portland, wo ich kurz in einem Laden von „Filson“ stöberte. Traperstyle. Die haben doch ihren Flagshipladen in Seattle. Taxi...! nichts wie hin.

Ich steige in einer grossen Halle die eisenschwarzen Treppen hinauf. Taschen, 

Kariertes, 

Ledergürtel

rohe Boots. 

Elche und 

Seeadlerfiguren. 

Goldminenfeeling pur. 

Das ist nicht ein Laden... das ist ein Erlebnis.

Die Taschen und Lederbörsen werden im Hause selbst gefertigt. 

Nähmaschinen

Fadenspulen

Knöpfe.....

Nein... ich

kann nicht wiederstehen.


So meine Batterien sind leer,

meine Erinnerungstanks übervoll.


Ich schlänze mich hoch über den Dächern in die Hängematte. Vor meinen Augen dockt ein Ozeanriese an... 

weit unten höre ich:


„Wuuuuuuuu.... wuuuuuuuhhhhh“

Die Amtrak-Loks ziehen weiter.


Ich bleibe. 

Irgendwie wurde diese Stadt etwas vergessen und will nun entdeckt werden.



„Don‘t miss Seattle.“

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Kommentare: 4
  • #1

    Dorte (Samstag, 20 Juli 2019 08:54)

    Mit dem Zug von Portland sind wir auch gefahren und ich war überrascht über die Qualität. Seattle waren wir leider nicht aber nach deinem (wieder anregenden) Bericht scheinbar einen Besuch Wert. Weiterhin gute Reise. Lieber Gruss

  • #2

    Müller Albert (Sonntag, 21 Juli 2019 09:53)

    Vintagegefühl? - sollte es "Weintagegefühl" heissen...herrliche Fotos, Danke, nun "muss" ich nicht hin!

  • #3

    Marlies Kunz (Donnerstag, 25 Juli 2019 02:01)

    Meine liebste Francesca
    Wiedereinmal ein wunderschönes Reise Erlebnis ...einfach einmalig Mit Dir lernt man unsere Wunderbare Welt etwas Besser kennen....Toll....Deine interessanten Geschichten........
    Und Du siehst Zauberhaft und Glücklich aus ....
    Jetzt Umarme ich Dich ..und wünsche Dir noch viele spannende Tage ....
    Deine Marlies

  • #4

    Rena de la casa (Montag, 29 Juli 2019 17:12)

    Natur - Farben - Kontraste - Gerüche -
    Architektur... mit deiner Schilderung von Seattle deckst du vieles ab. So erlebten wir die Stadt 1978(!) und 1998 nicht! Merci