Freak out

Sie trägt einen dicken Zopf wie Kupfer. Ihre Haut schimmert in Pfirsich-Rosé. 


Ihre Augen: Grüner Tiefengrund. 


Sie dreht sich... fast in Zeitlupe. 


Ihr Rücken:

Kreuzende Seidenbänder in der Farbe Nude. Ein Mann tritt von hinten an sie heran. Seine schwarzbraunen Finger ergeifen die Bänder. Dieser Kontrast:


Seine Haut; Ebenholz. 

Ihre Haut; Elfenbein. 


Er zieht. Zieht kräftig. Das Korsett engt sich. Durch ihren Körper geht ein Ruck. Ihr Kopf wirft sich in den Nacken. Der Zopf fliegt. Die Büste hebt sich unter der apfelblütenhaften Spitze. 

Es ist ihm nicht genug. 



Er zieht nochmals. Als führte er scharf die Zügel. Sie windet sich unter der Enge, die ihr den Atem stiehlt. Ihre bronzeroten Lippen öffnen sich... 

Luft saugend. 

Ihr Kopf wiegt. 

Der Zopf fliegt. 


Ihre Augen: Grüner Tiefengrund. 

Nun lässt er plötzlich locker. Löst die Bänder. Zieht sie laaangsam durch die Ösen. 

Die Bänder scheinen sich zu multiplizieren. Ein Windstoss. 100 Bänder wirbeln durch die Luft wie wildes Wasser. Ich kann es beobachten auf 6 verschiedenen Bildschirmen, die stets nur einen Ausschnitt der Szene zeigen. Man weiss nicht, wo schauen. Champagnerfarbene Bänder, Bänder... 100 Bänder, die wild aufquirlen..seidig glänzend in der Farbe ihrer Haut. Ihre Brust weitet sich.... das Korsett.... rutscht sacht .... sacht nach untern.


Der Zopf fliegt. 

Wie weit es, das Korsett, sich senkt?

Zentimeter, Millimeter.

Die Sekunde hat unendlich Zeit. 


Ich sage es nicht, denn in der Show von Jean Paul Gaultier kann alles passieren... das Nicht-Logische... das Überraschende.

Ich sitze im berühmten Folies Bergère Theater. Der exzentrische Designer Jean Paul Gaultier hat sich im letzten Jahr (2018) den Traum einer eigenen Bühnenshow erfüllt. Zwei der heiss begehrten Tickets konnte ich ergattern.

Schon die Lobby entführte mich in die sinnliche Welt. Der Chandelier tropft sein Licht durch neonblaues Licht. Goldene Pferdeköpfe. 

Figuren aus glänzendem schwarzen Lack mit Endlos-Beinen,

Irokesenkopfschmuck tragend.

Keine Zeit über das Entrée nachzudenken. 


Die Bühne versinkt in laszivem Rot. Männer und Frauen in Leder und Lack bekleidet, betreten forschen Schrittes die Szene. Die Kostüme geizen nicht mit intimer Haut. Eine Lady hängt sich im Hintergrund an eine Sprossenwand, eine andere an ein Trapez, das von groben Ketten gehalten wird.

Seitlich eine Domina in himmelhohen Overneestiefeln und Nietenschmuck. Ihr Sub leckt ihre Stiefel. 

Sie schwingt die Peitsche. 


Die Musik dröhnt:

„Dont‘t do it.... don‘t do it.“

Vorne räkelt sich ein Paar. Er reisst ihre Arme über den Kopf. Handschellen schnappen. Er steht breitbeinig über sie; er betrachtet sie, wie sie so daliegt... daliegen muss. Mit einem Schlagstock folgt er der Tektonik ihres Körpers, von der Fussspitze, die Schenkel, im Schritt....verweilend......, weiter über den Bauch, ihre blühenden Kronen, zum Hals, ihr Kinn nach oben schiebend. Fifty shades. Wird er sie ......


quälen? 


„Don‘t do it.... don‘t do it“, stöhnt der Lautprecher.


Das Licht erlischt. 

Stille. 

Schwarz.

Wir, das Publikum, das sind rund 500 Zuschauer, ist angesichts dieser Darbietung schon am Kochen. Begeisterte Schreie, Pfiffe, Applaus. Es ist warm im Saal, aufgeheizt. Gut kommt in Bälde die Pause, wo ich meine Wange an einer Sektflûte kühlen könnte, und ich gleichzeitig weiter auf augenschmausige Entdeckungsreise gehen kann.


Masken, 

erotisch angehauchte Puppen, die sich über den Bartresen legen.

Gaultiers unverkennbare Parfümflaschen mit den hochstrampelnden Beinen.

Der Gong erklingt. Man geht freudig wieder in den Saal. Was wird das Enfant terrible der Modedesigner für uns  bereithalten? 


Sein Leben. 


Mit Filmeinspielungen aus seiner Jugendzeit wird gezeigt, dass er schon mit neun Jahren Damen in Netzstrümpfen zeichnete und als Strafe mit den Skizzen im Schulgang hin- und herlaufen musste, die Bilder am Rücken befestigt. Ein Spiessrutenlaufen durch die Schmäh der Mitschüler. 


Jetzt füllt sich die Bühne wieder. Der Kreativitätswahn wird zelebriert. Kein Künstler trägt das gleiche Kostüm wie ein anderer. Wouw .... diese Farben, Formen. 

Seine Signaturkreationen sind natürlich auch dabei. Die Kleider mit den Kegelbrüsten, die sowohl von Männern und Frauen vorgeführt werden. 


Madonna ist in ihrer Hochblüte in dieses provokative Outfit gesteckt worden. 

Dann der Rock für den Mann. Gaultier hat ihn nach den Schotten wieder neu interpretiert, auf den Catwalk gebracht. Mitten in all dem Gewusel von Figuren ein junger Künstler, der den Meistro darstellt, natürlich im legendären Marinestreifenshirt.

Die ausgelassene Musik befeuert die Darsteller bis sich die Stimmung eintrübt. Nach und nach verschwinden die Figuren. Nur eine einzige bleibt. Ein Mann in einem hautengen Silber-Hochglanz-Dress, der seinen Körper vom Kopf bis zu den Zehen mit Argento überzieht.

Es muss Gaultiers langjähriger Lebenspartner, Françis, sein. Gaultier verliert ihn mit 30 Jahren an die Krankheit dieser Generation. Wie in einem Ballet von Maurice Béjart krümmt und windet sich der Tänzer. Richtet sich auf, um unter dem Schmerz wieder zusammenzubrechen.

Sich wieder aufrappelnd. Um wieder einzuknicken. Das Virus wird siegen.

Sein Körper wird sich über eine Seilschlinge legen, an der er sachte nach oben in die Galaxie der Ewigkeit gehoben wird. Ergreifend und doch schön.

Gaultier stürzt sich in die Arbeit. Und seine Botschaft, die er über seine Modeschauen kolportiert, führt zu veritablen Skandalen, die es brauchte, um die Gesellschaften aufzubrechen.

Liebe für alle. Individualität und Respekt für alle. Die Artisten stürmen die Bühne. Die Pridefahne wird hochgezogen.

Der Song „Freak out“ holt uns von den Plüschsitzen.

Die männlichen Paare spazieren Hand in Hand, angeführt von einem herrlichen schwarzen Adonis. Der Mensch in Perfektion.  Er trägt eine römische Kriegerrüstung. Posiert, kokettiert, dreht sich.... und ist


nackt. 

Ein Po, den Leonardo da Vinci mit dem Zirkel nicht wohlgeformter hingekriegt hätte. Frau/Mann muss hinschauen.


Applaus brandet auf. 


Engumschlungene Frauen rücken von hinten auf. Sie lassen ihre Zungen, ihre roten Lippen über die Haut der Partnerin gleiten. Am Nabel......

und weiter südlich.

Die Musik beschleunigt. Die Show kommt auf Hochtouren. Herren in Abendkleidern mit Dekoltée und Federbäuschen. Aufgeklebte Sinikonbrüste bei den Jungs, die nur in Boxerpants laufen. Damen mit fast nichts aber echten Brüsten und Kopffedern und Zigarre im Mund. 


Ich bin gefordert. 

Das Treiben da unten und

Gleichzeitig: 

Bildschirm 1: Ein sinnlich roter Mund. 

Bildschirm 2: Fliegendes blondes Haar. 

Bildschirm 3: Rubinnägel

Ein Rausch, ein Rausch der Reize.


Und wird es nun plötzlich bieder?

Ein Herr mit bernsteinfarbigem Seidensmoking und Zylinder hat den Walk plötzlich ganz für sich alleine.

Etwas stepartiger Tanz. 

Abgehackte Bewegungen. 

Dann.

Er knöpft Knopf für Knopf des Sakos auf. Ein weisses Hemd. Er dreht eine Pirouette. Gekonnt, zum Takt der Musik, lüftet er mit einem Ruck den Zylinder. Eine Welle von Kupfermähne quillt hervor. Es ist nicht ein ER. Es ist SIE. 

Die rothaarige Elfe vom Beginn der Show. 

Ihre Haut: Rosa-Pfirsich

Ihr Haar: Fliessende Bronze auf ihre jetzt entblösste Schulter. Es fällt Textil um Textil. Ihr porzellanweisser Busen repliziert sich auf den Bildschirmen, aber immer nur so kurz, dass man fast nichts sieht. Sie spielt mit dem Entzug. Man möchte mehr sehen, aber der Einblick wird einem genommen.

Der schwarze Adonis tritt hinter sie. Wie in der Eingangsszene. Sein Atem an ihrem Nacken. Sie spielen den Tanz der Erotik. Sie lockt ihn. Verführerisch wiegen sich die Hüften. Er berührt ihre Schulter fast unmerklich. Sein Finger erwandert ihr Rückgrat bis zum Gesäss. 

Bekommt sie Gänsehaut?

Sie wendet sich ihm zu.

Sie fesselt seinen Blick, den Mund leicht geöffnet. Nähert sich ihm. Beide berühren sich nicht. Das Spiel der Verführung bestehend aus Zeit und Reiz. Die Kunst des „Nochnicht“ in Stilvollendung. 

Seduction at its very best.

Adonis führt seine Nixe schliesslich auf hockhackigen Glitzerheels zur Treppe für das Finale der Artisten. Alle nur mit einem schwarzen Tanga bekleidet. Körper aller Art. Jeder Grösse, jeder Breite, jeder Hautfarbe.

Als wollten sie sagen: 

WIR sind WIR. 

WIR sind gut so, wie wir sind.


Vorne die Kupferhaarige. 

Hat sie mir gerade zugezwinkert?


Ihre Augen: Grüner Tiefengrund.

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Kommentare: 7
  • #1

    Irmgard (Mittwoch, 19 Juni 2019 08:45)

    Wow! Wie verführerisch! Die Bilder sind schon toll, aber es ist deine Schreibkunst, die das Ganze zu einem erotischen Genuss macht. Schon mal daran gedacht, sexy Romane zu schreiben?

  • #2

    Hansueli Maerki (Mittwoch, 19 Juni 2019 09:22)

    Grosse Show, noch bessere Beschreibung! Man kriegt Gänsehaut, vor allem wenn man den Ort und das Theater kennt

  • #3

    Wolfgang (Mittwoch, 19 Juni 2019 11:09)

    Erotisch und spannend erzählt. Habe darüber den Tee kalt werden lassen.

  • #4

    Cornelia (Mittwoch, 19 Juni 2019 11:50)

    Wow, wie du mit den Worten spielst! Danke, Franziska.

  • #5

    Georges (Mittwoch, 19 Juni 2019 13:36)

    Besser als jeder Konsalik....

  • #6

    Müller Albert (Mittwoch, 19 Juni 2019 16:07)

    Ein buntes Mosaik und sprachlich elegant, aber der Gersauer kennt weder die Farbe Nude noch Niefenschmuck und Overneestiefel...

  • #7

    Dorte (Sonntag, 07 Juli 2019 21:48)

    Fantastische Beschreibung eines sicher sehr faszinierenden Show!