Erkertraum

Ihr langes blondes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, dessen Ende auf ihre nackte Schulter floss. Sie stand am Fenster des Erkers des berühmten „Maison des Têtes“. Sachte schob sie den schimmernden Stoff des olivgrünen Organzavorhanges beiseite. Die Sicht durch die rautenverzierten Butzengläser öffnete sich auf den Platz. Würde ER heute vorbeigehen... leicht seinen Kopf heben.... ihre Blicke träfen sich.... ihr samtenes Kleid in Indigoblau, changierte mit den zart hereinfallenden Sonnenstrahlen des nahenden Abends, so dass sich Hell und Schatten in den Falten verlören. Funkelnd  der Gürtel, der ihrer Tallie schmeichelte. Der Ausschnitt des Decoltées schwang sich in eleganter Herzform. Da... tatsächlich...ER  kam um die Ecke. Das Mieder... sanftes Beben... Eine Solitärperle tropfte an langer Kette.....


Pulsschlag.....


Diese magische Szenerie, ein Tagtraum, in frühere Zeiten abgeglitten, in mir enstanden. 10 Sekunden und doch ganz klar.

Ich stehe vor dem ehrwürdigen „Maison des Têtes“. Nachdem ich dieses Jahr einige der schönsten Winkel des Elsass besucht hatte, lockte mich noch das Erlebnis, einen Christkindmarkt zu entdecken. Colmar, das sei einer der Schönsten. 


Besagtes Haus geizt nicht mit Originalität. Zwischen Elementen der Renaissence schmücken 103 verschiedene Sandsteinköpfe die Fassade. Die alte Brasserie und das neue Restaurant sind kein Geheimtipp; sie sind Kult. Damit bietet sich mir gleich Gelegenheit, die Colmarschen Possibiltäten in Sachen Essen zu begreifen. Ich drücke meine Nase an der Holztüre zur Brasserie platt. Fermé! Das ist kein Zufall. Das ist Kalkül, denn es scheint eine stille Symbiose zwischen dem Angebot (bzw. Nichtangebot) an den Ständen zu geben und den Geschäftszeiten der Gaststätten. Der Markt lockt mit allerlei verführerischen Gaumenkitzlern. 

Meine Augen baden in Gewürzen aus aller Welt.  

Vor der Boulangerie umgarnt mich der ofenwarme Duft der Guggelhöpfe. Hmmmmm ...

Die Christstollen mit roter Schleife aktivieren meine Puderzuckersehnsucht. 


Aber abgesehen von einem verlorenen Crêpesstand, scheint nichts Substanzielles im Angebot. Der Markt macht schliesslich, man höre und staune,  bereits um 19.00 Uhr dicht und just ab dieser Zeit, öffnen die urigen Tavernen und Gourmettempel. 

... Er war in der Menschenmenge verschwunden. Dämmerung legte sich in die Gassen. Laternenlichter schienen auf. Sie wendete sich vom Fenster. In ihrem Rücken breitete schon ein saftiggrüner Sapin de Noël seine Äste. Dort hing die burgunderrote Kugel, nein eher ein Zapfen aus gerilltem Glas. Er hatte dieses Geschenk überbringen lassen. Am 1. Adventssonntag. Die Masche ihres seidigen Handschuhs suchte den leisen Touch. In diesem Moment wurde der Glastropfen ein Coeur.


Coeur de Colmar. 


Sekundenherz....


Meine Träumerei zerfällt.. wieder hier zwischen den Buden. Die Lämpchen, Tausende illuminieren jetzt die schiefen Knusperknäuschen-Häuser. 

Alain vom Nougatstand ist gerade in Spendierlaune. Nougat hergeleitet vom Lateinischen „nux gatum“ „ Nusskuchen“  oder etwas empathischer von „nous gâter“ „uns verwöhnen“.


Die blockartige Eiweiss-Zuckermasse hat er in kleine Versuecherli zerbrochen. Pistazien oder Mandel? Kann das wahr sein? Immerhin heisst „gâter“

auch „verderben“.  Ist das eine unterschwellige Warnung für den Verzehr? Auf jeden Fall sieht die Verkostung nach zahnärztlichem Blombenalert aus, weshalb ich mich für die risikoärmere Lutschmethode entscheide. Très bon merci! 

Es zieht mich weiter Richtung Markthalle, um die herum sich offenbar die Textilecke etabliert hat. Handschuhe, Schals und Kunstfell.

Aber statt an den Ständen in gestrickten Pulswärmern zu schneugen, entdecke ich einen Ort, der wieder Fantasien schürt. Ein Broccante. Was es da alles gibt; Kindheitserinnerungen inklusive. Ein wildes Durcheinander. Die alte Schreibmaschine des Grossvaters, 

der Jugendstilschirmständer und im Schaufenster ..... nein ich wage es nicht zu sagen.... jetzt an Weihnachten. 


Eine Osterhasenform aus Metall.... da stehen des gleichen auch noch Samichläuse... aber etwas dekadent... der Hase unten links hatte mich gelockt. Der Patron nuschelt hinter seiner Kasse, antik natürlich. Ich bin aber mutig und mein Augenzwinkern samt Lächeln erntet schliesslich sogar einen Rabatt, immerhin 9%.


Trotzdem, ich lasse es.  Zuviele Taschen schon im Anschlag. Mit den silbernen Tischsets, dem Wildleder Schuhtraum mit Glitzerabsatz zum moderaten Preis und sowieso... zuhause hätten sie gegrinst... „was willst ausgerechnet DU mit einer Back- bzw. Gussform“; da drinn wird nie ein Brösel Zucker enden...“ No comment. Ich sehe es ein. 

Ich gehe mit leeren Händen um gleich im Nachbarhaus ins Deko-Nirvana abzutauchen. Laternen aus fein perforiertem Metall, die orientalische Muster an die Wand werfen, goldene Hirschgeweihe, Glitzerbäumchen... 

ein roter Glaszapfen... gerilltes Glas...hatte ich ihn nicht eben noch geträumt? Coeur de Colmar.

Draussen bin ich wieder geerdet. Ja ich sollte doch noch Glühweingewürz heimbringen.

Bei Ramon eventuell? „Nein... nicht bei mir. Ich habe nur Honig. Probieren Sie den exquisiten Nusshonig!“ jaa ... ein wirkliches Erlebnis. 

Aber nun genug der Schleckerei. Geistiges Futter ist angesagt:

Musée „Unterlinden“. 

Ambitionierte Kunstsammlung in klösterlichen Gebäude und modenistischem Annexbau in puristischer Klinkeroptik. 

Picasso und Monet wissen zu interessieren aber das Glanzstück ist von ganz anderer Welt: Der Altar von Isenheim. In der Kapelle des Klosters präsentiert sich der 3-flüglige Wandaltar aus 1512. Eine der bedeutendsten Tafelmalereien.

Ich verweile jedoch lieber bei der elsässischen Madonna, die mich vereinnahmt. Nicht wie so oft als bieder-verklärte Frau dargestellt. Natürlich... warm... mit vollem lebendigen Haar .... das ... (und meine Gedanken schweben sekundenkurz zum „Maison des Têtes“) auf die Schulter fliesst! 

Noch einmal hinaus ins nasskalte Wetter. Studium der Speisekarten in den Aushängen. Das „Restaurant au Marché“ neben der Kathedrale präsentiert das Menue in schwungvoller Handschrift. 

„Backoeffe“ ist auch dabei. Der Eintopf aus Lamm, Rind-und Schweinefleisch mit Kartoffeln ist nicht mein Favorit. Aber zwecks kulinarischer Weiterbildung ... Madame des Hauses, kann ihn wärmstens empfehlen. 

Mein Erwartung entspricht der Realität. 

Sicher bestmöglich dargeboten, aber dieses Deftige ist nicht mein Fall. Aber das wusste ich ja. 

Dass das Lokal sehr zu empfehlen ist, erfahre ich dann noch beim Dessert. Eine zauberhafte „Charlotte“ aus getränkten Löffelbisquits  gefüllt mit unverschämt delikater Crème überthront von zimtbestäubter Rahmhaube und die Herzlichkeit der Patrons machen einen Halt in dieser gemütlichen Gaststätte.


Es geht zurück zum Bahnhof. Der Taxifahrer ist sehr freundlich. Er spricht sogar Deutsch (wie die meisten hier) und dies offenbar gerne. Nicht wie in Strassburg, wo man es zwar versteht, aber unmissverständlich das Gefühl bekommt, dass Französische Gehversuche belächelt würden und Deutsch aus Prinzip nicht existiere. 


Schauen Sie Madame, la Gare, ist er nicht wunderbar? Er soll eine Lokomotive symbolisieren. Der Turm das Kamin, hinten das Hauptgebäude ist der Maschinenraum und der Torbogen des Eingangs ein Antriebsrad.“ 


Ich sehe keine Lok. Aber ein ansprechendes Gebäude mit Glockenturm. Angestrahlt in intensivstem Lavendel. Ja wunderschön. Der Fahrer und ich... wir sehen nicht dasselbe... aber wir verstehen uns... Jeder in seiner Immagination. 


Hinter der Scheibe unter dem Giebel bemerke ich im letzten Moment noch ein Stück Spitze aufblitzen. Der Brockatsaum eines Ärmels? Rasch enthuscht. 

 War es SIE ?

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